Pfützen
Auf Zehenspitzen umlaufen wir die kleinen Teiche, die der ukrainische Regen auf den Straßen und Gehwegen hinterlassen hat.
Was auf den ersten Blick einem feinen Film ähnelt, entpuppt sich als knöcheltiefes, kaltes Nass. Geflutetes Schlagloch. Der spröde und rissige Asphalt des ersten Tages ist verschwunden und die Straßen schimmern nass-glänzend. Tief unten in den dunklen Löchern unseres Weges liegen die Reste vergangener ukrainischer Alltage: Plastikpapier, Zigarettenstummel und gelbe Herbstblätter.
In den Pfützen des aufgeplatzten Asphaltes spiegelt sich die ukrainische Traurigkeit über ihre Vergangenheit.
Genau wie unsere Stiefel das Regenwasser aufwühlen, so erweckt auch unsere Aufarbeitung Erinnerungen, Gefühle – und mir wird klar, dass mich meine bedachten Schritte zu den tränentiefen Asphaltwunden führen und nicht daran vorbei.
(Sofia Nicolai)
Die Begegnung
Wir kommen in den Klassenraum in der ukrainischen Schule. Nach sehr vielen lieben Grußworten kommen nacheinander mehrere Gruppen von ukrainischen Schülern in den Raum. Wir zu 12 Leuten sie zu 25. Ein komisches Gefühl. Die Ukrainer auf einer Seite die deutschen Schüler auf der anderen. So viele Jugendliche, die sich nicht trauen miteinander zu sprechen.
Nach ein paar ausgetauschten Blicken und gezwungenen Vorstellungen wird die offizielle Veranstaltung aufgelöst. Immer noch sitzen sich die Schüler gegenüber zwischendurch ein schüchternes Lächeln.
Endlich erbarmen sich ein Paar aufgeschlossene Mädchen sich zu uns zu setzen. Das Eis ist gebrochen. Gruppen bilden sich und es entstehen lebhafte Gespräche in lustigen Sprachkombinationen aus Englisch, Deutsch und Ukrainisch. Aus zwei getrennten Gruppen ist plötzlich eine Gemeinschaft geworden, die sich über gemeinsame Hobbys und Interessen, Musikgeschmäcker und Lebensgewohnheiten unterhalten und austauschen.
(Madita Pfingsten)
Archivarbeit
Ein leises Blätterrascheln und Stiftekratzen, hin und wieder einige geflüsterte Worte.
Zunächst das Öffnen des äußeren Umschlags – eine kribbelnde Spannung durchläuft meinen Körper – und dann halte ich das Blatt Papier in den Händen, welches mich für die nächsten Minuten und Stunden in eine andere, inzwischen längst vergangene Welt eintauchen lässt.
Jeder Brief eine Überraschung, ob ein zeitlich exakter Bericht über den Kriegsverlauf oder eine so private und schicksalsschwangere Botschaft, dass es mir ungeheuer und viel zu intim erscheint, sie zu lesen und in ein Raster einzuordnen.
Gastfreundschaft
Neben mir sitzt Hausmeister Sascha und singt mit sanfter Stimme und funkelnden Augen ein altes Liebeslied. Viele der am Tisch versammelten Kolleginnen haben die ersten Lieder mitgesungen, hören nun aber auch nur noch zu.
Wir sind eingeladen in den Heimatkunderaum der Schule No 10 in Chmelnyzkyj. Hinter einem Vorhang öffnet sich ein hoher Raum, durch Fenster fast unter den Decke tageslichthell. Bunte Bilder zeigen Szenen von einem Leben, das uns heute kaum mehr vorstellbar ist und liebevoll gesammelte und arrangierte Haushaltsgeräte, Trachten, Möbel und wieder die reich bestickten Ruschnik. Um den langen Tisch in der Mitte können sich Grundschüler versammeln, lernen und schauen.
Heute Abend ist der Tisch gedeckt mit Schalen und Töpfen mit den unterschiedlichsten Ukrainischen Speisen. Alles von Kolleginnen und Kollegen der Schule zubereitet und sogar in den eigenen Gärten geerntet. Das Meiste ist vegetarisch und auch von den Wareniki bekomme ich eigens Schüsseln gereicht, in denen die vegetarische Variante für mich ist. „Karolina“ höre ich immer wieder und darf zugreifen.
Ein Gespenst namens Kyrill
Es ist eine mysteriöse Welt, die uns in der Fremde umgibt: Kyrillische Zeichen wuseln in den Speisekarten umher und quellen aus den Mündern der Kellner. Schilder stellen sich bedrohlich in den Weg und ihre unlesbaren Aufschriften zeichnen Fragezeichen auf unsere bleiche Stirn. In dieser befremdenden Zeit wird ein Geist heraufbeschworen. Es ist der Geist der Isolation, der uns aus der fremden Gesellschaft herauszuzerren versucht. Einheimische werden nicht von dem Wesen heimgesucht, in dessen Anwesenheit wir uns stets allein und ausgestoßen fühlen.
Doch die Macht des allmächtig scheinenden Phantoms wird gebrochen, wenn wir unseren ukrainischen Freunden begegnen. Sie helfen uns, dem Spuk ein Ende zu setzen und uns in der Fremde sorglos zu fühlen.
(Lukas Menges)