Veteranen
Funkelndes Gold leuchtet mir entgegen, darunter auch Silber und bunter Stoff auf majestätischen Türkis. Wie Statuen sitzen sie dort aufgereiht, starr wie aus einer anderen Zeit. Auf den zweiten Blick erwachen sie zum Leben. Die kleinen Äuglein, eingerahmt von tiefen Falten, die zusammen mit dem feinen und schneeweißen Haar von einem lagen Leben und schweren Erfahrungen zeugen, funkeln. Kindliche Aufgeregtheit. Eine Spur von Ungeduld. Der brennende Wunsch sich mitzuteilen. Verstohlen geht jedoch auch hin und wieder ein nachdenklicher fast apathischer Blick in die verstaubte Zimmerecke und wir können nur fantasieren über die Bilder, die dort plötzlich wachgerufen werden.
6 Gesichter mit 6 scheinbar endlosen Geschichten. Freudige Erwartung liegt in der Luft. Der erste von ihnen erhebt das Wort. Totenstille. Kaum zu glauben, dass an die 30 Zuhörer gespannt dem ersten Wort entgegen fiebern.
Nach und nach fangen Worte an Bilder in unseren Köpfen zu werden. Sechs Männer, unsere Veteranen, als Schlüssel für die Tür in die andere Welt. Ein längst vergangener Schmerz macht sich in diesen Minuten in dem kleinen Raum breit. Pflanzt sich in unsere Köpfe, wie ein kleiner Same, der abgeworfen wird von einem sterbenden Baum, damit er wächst, genauso groß und prächtig wird und die Geschichten weiter erzählen kann.
(Lea Dinger)
Briefelesen
Für ein formulierbares Zwischenergebnis notierten wir nach der Quellenerfassung (die dazu erstellten "Stammblätter" finden Sie hier) zunächst die uns besonders beeindruckenden und wichtigen Briefstellen. In einer Arbeitsgruppe glichen wir unsere Funde ab und einigten uns auf drei exemplarische Zitate und erläuternde Statements.
I
„Ich glaube es ist allgemein bekannt was bei Tscherkassy los war. Wir brachen zwar den Kessel auf aber wurden selbst dabei fast aufgerieben. Ich selbst erfror hierbei, leicht allerdings, die Füße und kam nach 14 Tg. zurück. Fünf Tage später wurde die Komp. abgelöst, Komp. ist zu viel gesagt. Es war nur noch 1 Uffz. Kaum einen von meinen Kameraden habe ich wieder gesehen.“
Gefreiter Werner S.
Rußland, den 15.3.1944
Dieses Zitat wählten wir aus, da es besonders genau den Hergang der Kesselschlacht von Tscherkassy beschreibt.
Der Autor stellt dar, welch geringe Teile der Einheiten überlebten, er geht hierbei auch auf sein persönlich erlebtes Leid ein, welches sicherlich exemplarisch für die allgemeinen Bedingungen während dieser Schlachten ist.
Das Besondere an diesem Brief ist die Genauigkeit – wäre dieser Brief in der Zensur geöffnet worden, wäre er vernichtet worden.
Uns ist dieser Brief so wichtig, da er uns exakt über die Rückzuggefechte der deutschen Wehrmacht im Frühjahr '44 informiert.
Die Locke
Der erste Brief liegt vor mir. Mit behutsamer, ehrfürchtiger Hand öffne ich den Umschlag. Mit leichtem Zittern klappe ich das raue, vergilbte Papier auf. Ich streiche etwas Schmutz von der ersten Seite und es kommt mir vor, als würde ich etwas Staub von dem löchrigen Dunkel in meinem Kopf pusten, das sich Vergangenheit nennt. Da fällt ein kleineres gefaltetes Papier auf den Tisch. Ich nehme es vorsichtig, aber voller Neugier, und da liegt in meiner Hand eine kleine, weißblonde Haarlocke.
Kurz zögere ich, bevor ich das Haar berühre, aus Angst es könnte einfach wie eine Erinnerung zerfallen oder wie ein toter Schmetterling, den man jahrelang sorgfältig aufbewahrt hat. Ein wenig spröde fühlen sie sich an und auch wegen der Farbe erinnern sie mich an Hanffasern.
Gäste
Freitag. Wir kennen uns schon ziemlich gut. Trotzdem bin ich aufgeregt. Ich soll ja meine deutschen Freunde zum ersten Mal zu Hause empfangen. Mama ruft mich alle 10 Minuten an. Sie ist wohl auch ungeduldig und etwas besorgt…
Der Arbeitstag an der Schule ist nun zu Ende. Die ukrainischen Jugendlichen holen hastig „ihre“ Deutschen ab…
Wir gehen durch die Chmelnyzker Straßen, und die Überspannung legt sich von selbst. Mit einem Lächeln empängt uns zu Hause Mama. Es war alles wie in einer Familie, wir wollten uns ziemlich lange nicht trennen. Wir hörten usere Lieblingsmusik, die die Mädchen auf CD gebrannt haben, wir lachten über unbeholfene Strickkatzen, eine Mütze und Lisa, die eine schreckliche Angst vor meinem kleinen Papagei hatte…
10 Uhr abends. Es ist die Zeit, ins Hotel zurückzukehren. In den ein paar Stunden, die wir zusammen verbracht haben, hat meine Mama Lisa, Sofie und Julia liebgewonnen. Aber der Abschied musste kommen. Letztes Treffen? Jedenfalls werden wir mit herzlichen Erinnerungen und einem Foto im Rahmen an diesen Tag stets zurückdenken.
(Anastasia Boyko)
Wir
Während der Projektwoche war ich wohl nicht besonders aktiv. Ich habe beobachtet. Beobachtet, wie wir, Jugendliche, auf belastende Erinnerungen, die den mit Falten umrahmten Lippen der Zeitzeugen entgleiten, reagieren. Was uns in den Museen beeindruckt. Worüber wir lachen. Ich habe andere genau betrachtet und in ihren Augen eine Mischung aus Geschichte und Leben gesehen.
Wir, junge Generation, sind die Nachfolger und müssen in der Zukunft wichtige Verpflichtungen unerbittlich übernehmen. Wir werden entscheiden, was passieren soll. Das hängt aber schon jetzt von uns ab: von den gemeinsamen lustigen Abenden wie von den ernstlichen Gesichtern während einer Museumsführung.
Dieses Projekt öffnete mir die Augen, dass es keine Rolle spielt, woher du kommst und wie du bist – jeder ist ein Mensch, der lebt, der lernt, der träumt und glaubt. Ich sah die grauen Feldpostbriefe und die hellen Lächeln der deutschen Freunde. Ich möchte, dass dieses Projekt weitergeht, dass wir uns wieder sehen, lächeln, in Gedanken versinken, uns beobachten, voneinander Abschied nehmen – um uns dann wieder zu sehen…
(Sascha Twerdochlib)