Die Locke
Der erste Brief liegt vor mir. Mit behutsamer, ehrfürchtiger Hand öffne ich den Umschlag. Mit leichtem Zittern klappe ich das raue, vergilbte Papier auf. Ich streiche etwas Schmutz von der ersten Seite und es kommt mir vor, als würde ich etwas Staub von dem löchrigen Dunkel in meinem Kopf pusten, das sich Vergangenheit nennt. Da fällt ein kleineres gefaltetes Papier auf den Tisch. Ich nehme es vorsichtig, aber voller Neugier, und da liegt in meiner Hand eine kleine, weißblonde Haarlocke.
Kurz zögere ich, bevor ich das Haar berühre, aus Angst es könnte einfach wie eine Erinnerung zerfallen oder wie ein toter Schmetterling, den man jahrelang sorgfältig aufbewahrt hat. Ein wenig spröde fühlen sie sich an und auch wegen der Farbe erinnern sie mich an Hanffasern.
In diesem Stück Leben materialisiert sich ein liebevoller Gruß, der sich sonst nur durch Worte äußert und er gewährt dem Empfänger Halt und Gewissheit, derer Worte entbehren. Traurig, dass dieses Geschenk nie angekommen ist.
Ich kann nicht anders und lege die Locke auf eine Fingerkuppe und streiche mit dem anderen diese Rundung entlang, während ich mir den kleinen Jungen vorzustellen versuche, dem die Locke gehört hat.
In dem Brief erfahre ich mehr über ihn, doch eigentlich ist es die Locke, die eine Geschichte erzählt und einen Kontaktpunkt zu der vergangenen Wirklichkeit erzeugt, die nun zu mehr als einer Geschichte geworden ist.
(Laura Eisenträger)