Unbekannte Helden.

Ulrike Hoffmann - Verwohlt
Unbekannte Helden. Eine deutsche Geschichtslehrerin erlebt historisches Lernen in der Ukraine

altMuss man Geschichte ausstellen, um sie erfahrbar zu machen?

Der Rundblick im Schulmuseum des 31.Panzerkorps der Schule Nr. 10 in Chmelnytzky überwältigt den Besucher. Stolze, reich dekorierte Männer – nur eine Frau ist auf den  Fotos zu sehen – blicken den Betrachter an; vergilbte Schriftstücke stapeln sich in Vitrinen, Fahnen und Karten bedecken die Wände beinahe vom Boden bis zur Decke. So sehen auch in Deutschland Museen aus, die von der modernen Museumspädagogik übersehen wurden. Aber die Panzer, sorgfältig bemalte Miniaturen verschiedener Größe, wie aus dem Bastelbausatz, sie lassen einen Bezug zur historischen Aufklärung nun gar nicht erkennen.



altDiese Ansammlung toter Fakten wird jedoch lebendig, wenn Frau Galina Krasimirowa  zu erzählen beginnt.

Sie zeigt mit einem Holzstock auf gerahmte Fotos, auf Karten, die ihren Zweck angesichts der Überfülle von Pfeilen verloren haben, hält Schriftstücke hoch, denen man die Alterspuren deutlich ansieht. Frau Krasimirowa, Mathematiklehrerin der Schule, informiert über die Panzereinheit 31 der Roten Armee ( 2. Weltkrieg ), mit der die Schule eine Patenschaft pflegt. Auch der sprachunkundige Besucher entnimmt ihrer Erzählung Ernsthaftigkeit, Stolz und Trauer. Mit eindringlichen Gesten fordert Frau Galina die Aufmerksamkeit der Zuhörer – es geht um Wichtiges. Es geht um den Beitrag der Roten Armee zur Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus. Die Fotos zeigen Menschen, auch Frau Galinas Vater, die in der Region Chmelnytzky gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft haben. Sie und Millionen weitere Soldaten, unterstützt von den Partisanen, erzwangen im Verbund mit den Alliierten die bedingungslose Kapitulation des faschistischen Deutschlands. So klar und unmissverständlich haben die anwesenden deutschen Schüler diese Wahrheit wohl noch nie gehört.

Die ukrainischen Schüler kennen diese Ereignisse, man sieht es an ihren Gesichtern. Sprechen über die Geschichte ist für sie selbstverständlich, sie sind eingebettet in eine Geschichtsbetrachtung, die gleichsam organisch Erinnerungen weiter trägt und Kenntnisse erweitert.

Am 9.Mai eines jeden Jahres, dem „Tag des Sieges“, besuchen die Veteranen ihre Paten im Schulmuseum. Immer neuen Schülergenerationen erzählen sie vom Krieg, er kann nicht in Vergessenheit geraten. Längst sind ihre Kinder, wie Frau Galina, in ihre Fußstapfen getreten und tradieren mit Hilfe der Ausstellungsstücke, was sie selbst zuvor von den alten Männern gehört haben, denn nur noch zwei von ihnen leben.

In Deutschland sind diese Helden weitgehend unbekannt, wie gut, dass wir in Chmelnytzky an sie erinnert wurden.

Aber trägt die hier ausgestellte Heldenverehrung wirklich als Orientierung für Jugendliche, deren Welt so ganz anders aussieht als von 70 Jahren?

Antwort geben die Schüler des Geschichtskurses von Frau Ludmila ? und Herrn Mykola Timkow bei der Präsentation ihrer Nachforschungen. Diese Schüler öffneten sich einem ihnen unbekannten Thema, dem Leid ukrainischer Zwangsarbeiter in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus. Mündlich tradierte Geschichte ist ihnen vertraut. Sie fragten Zeitzeugen, ihre Familien und Lehrer und es gelang ihnen, das Leid der Zwangsarbeiter zu fühlen – diese Erfahrung teilen sie mit den Schülern aus Wuppertal. Die Darstellung der ukrainischen Schüler beinhaltet die Aufforderung an ihre deutschen Gäste, gemeinsam dafür zu sorgen, dass solches Leid niemals wieder geschieht. Gewiss können die deutschen Schüler, und natürlich auch ihre erwachsenen Begleiter, diesen Auftrag annehmen. Schuld ist individuell,  Verantwortung für das historische Gedächtnis jedoch kollektiv, so, sinngemäß, der Lehrer Kolja. T.

In bewundernswerter Offenheit untersuchten die ukrainischen Schüler nicht zugestellte deutsche Feldpostbriefe aus dem Bestand des Stadtarchivs Chmelnytzky. Sie entwickelten Interesse für die Gefühle der deutschen Soldaten und ihrer Familien und Freunde, sie sahen nicht nur die Täter, sondern die Menschen, durchaus in ihrer Widersprüchlichkeit.

Kann man dem Entstehen von Feindbildern besser entgegenwirken?

Ein weiteres, bedeutendes Zeugnis lebendiger Geschichtsbetrachtung liefert der Bericht über die Führung der Veteranen durch die Ausstellung „Riss durchs Leben“. Die Rollen kehrten sich um, Schüler als Experten konnten den Veteranen unbekannte Helden vorstellen – die Zwangsarbeiter. Ihrem Anteil an der Beendigung des 2. Weltkrieges sind die alten Kämpfer hier zum ersten Mal begegnet.

Mit etwas Neid blicke ich auf diese Generationen übergreifende, vorurteilsfreie und allein der Wahrheit verpflichtete Auseinandersetzung mit der Geschichte, wie ich sie in unserem Projekt kennen gelernt habe.  Für diese Lehre bedanke ich mich ausdrücklich bei den ukrainischen Schülern und Lehrern.

Uns allen , deutschen und ukrainischen Schülern und Lehrern, stand allerdings mit Frau Ljuba Sotschka eine Hilfe zur Seite, die absolut unverzichtbar war. Sie übersetzte alle Gespräche und Texte, ohne ihre umfangreichen Kenntnisse der ukrainischen und deutschen Geschichte und Kultur  wäre keine Kommunikation entstanden.

Zum Schluss zurück zum Anfang:

Ohne die Ausstellung „Riss durchs Leben“wären Nachforschungen in Wuppertal und Chmelnytzky unmöglich gewesen, hätte die Begegnung nicht stattgefunden.

So richtet sich der abschließende Dank an die Autorin und Initiatorin Frau Dr. Bouresh.

P.S. Zitat aus den Resümee eines ukrainischen Schülers bei der Abschlusspräsentation: „Ich hätte nie gedacht, dass ich einem Deutschen die Hand gebe.“


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