Busfahren
Ich sitze im Bus. Dieser ist nicht mehr neu und befindet sich in einem Land, dass ich nun zum ersten Mal besuche.
Um mich herum fremde beziehungsweise mir nicht wirklich bekannte Menschen. Alle reden aufgeregt durcheinander. Es entsteht eine seltsam interessante Mischung aus deutschen, englischen und unkrainischen Wortfetzen.
Irgendwann gebe ich den Versuch diese ganzen Eindrücke zu ordnen auf und beschließe mich ein wenig auszuklinken. Ich stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren. Musik an - Welt aus. Zeit für eigene Gedanken, die sich in der Fensterscheibe des Busses zu spiegeln scheinen.
Goldene Kuppeln tauchen auf. Sie sind von nahezu jedem Ort in der Stadt sichtbar.
Häuser erscheinen. Auf der einen Seite die prächtigen Bauten mit ihren geschmückten Fassaden. Auf der anderen die plattenbauartigen Gebäude, denen man ihr Alter ansieht. Sie erscheinen mir als Uniformierte, die einen mitunter neugierig ansehen.
Panzer stehen wie selbstverständlich an den Seiten des Weges, der zu einem Museum führt.
Dann kommen Gedanken darüber, was nun kommen mag. Ich weiß nur ungefähr was mich erwartet. Viel Spielraum für Fantasie. Wie werden die anderen sein? Was wird passieren? Was werde ich lernen? So viele Fragen...
Arbeit in einem Archiv steht an. Arbeit mit Feldpostbriefen. Was wird mir dort begegnen? Vielleicht ein Brief, dessen Inhalt mich tatsächlich tief berührt? Vielleicht ein Brief dessen Schreiber trotz allem auch Sorgen hat, die mir bekannt sind? Vielleicht auch ein Brief, der einen Bezug zu mir hat. Vielleicht aus Wuppertal kommt. Oder, ich wage es kaum zu denken: Vielleicht der Brief eines Verwandten von mir? Möglich wäre das schon. Aber wenn dies wirklich passierte, wäre das schon ein großer Zufall. Unwahrscheinlich also, aber nicht unmöglich...
Der Gedanke setzt sich in meinem Kopf fest. Ohne mein Zutun gestaltet er sich weiter aus. Ihn wieder loszuwerden wird unerwartet schwierig, egal wie oft ich mir versuche zu verdeutlichen, wie unrealistisch dieser Gedanke ist.
Währenddessen fährt der Bus weiter durch die Nacht. Die anfänglich ruhige Fahrt gleicht inzwischen eher dem Kampf eines nussschalengroßen Bootes gegen eine aufgewühlte See.
Die Gespräche hingegen sind ruhiger geworden oder ganz verstummt. Dies erzeugt eine eigenartige Ruhe. Am Fenster fliegt die Landschaft vorbei. Bäume und Häuser werden gesehen, aber nicht wirklich wahrgenommen.
Irgendwann merken wir, dass wir uns anscheinend verfahren haben. Also dauert die Fahrt noch länger. Ich versuche, nur mäßig erfolgreich, eine bequemere Sitzposition zu finden. Weiterhin lausche ich der Musik und versuche der am Fenster vorbeifliegenden Bilderflut zu folgen.
Irgendwann weicht das Zeitgefühl und wird durch ein Gefühl der Ewigkeit ersetzt. Kaum mehr vorstellbar, dass diese Fahrt irgendwann endet. Auch ihr Anfang ist fast schon zu lang her, um als real angesehen werden zu können.
Das betrifft allerdings nahezu alles, was nicht in diesem Bus mitfährt: Zu weit entfernt, um als existent wahrgenommen zu werden. Es gibt nur noch den Bus, die Musik aus meinen Kopfhörern und die Gedanken, die sich einstellen.
Die Busfahrt endet. Recht abrupt Es dauert einen Moment bis ich das erfasse. Doch dann kehrt die Realität ein Stück weit in meine Wahrnehmung zurück.
Die Welt hat mich wieder.
(Liiane v. Pollmann)