Im Archiv

Im Rascheln der Blätter schläft die Zeit. Unser Lesen der Feldpostbriefe erweckt sie, ihre Geschichten und Anliegen fallen in unsere Hände und wiegen dort schwer für einige Zeit. Sie lassen uns nicht los. Buchstabenweise und Wege suchend im mühsamen Gelände der Sorgen und Nöte tasten wir uns voran. Wir bergen Schätze, wir bezeugen, was die Adressaten nie lesen konnten, tot vielleicht oder unerreichbar geworden für die Absender zu Haus, im Stellungsgraben. Wir versinken für Stunden im Zeitlaub, rascheln und hören das Gewisper der Geschichten. Ein leises, verinnerlichendes Wunder....

(Rainer F. Kokenbrink)

Erinnerung

alt"Ach lass die Kraniche mit ihrer Trauer ziehn..." singt Eva Maria Hagen in Biermanns Übersetzung eines Jesseningedichtes ganz leicht und unendlich schwermütig. Aber im letzten Raum des Museums zum Großen Vaterländischen Krieg in Kiew ziehen die Kraniche nicht fort. Sie bleiben im Trauerflug über dem gedeckten Holztisch, der auf Patronenhülsen steht, sie bleiben über diesem 27 Meter langem Tisch - ein Meter für jede Millionen Gefallenen. Aus militärischen Segeltuch auf der einen Seite und den bunten Kopftüchern der Frauen auf der anderen Seite gebunden schweben sie erinnernd an die Toten und Überlebenden in langem Zug über den Tisch. Unter den Augen der Gefallenen, 6000 Gesichter, sind die Toten und Lebenden zu Tisch gebeten. Eingedeckt wurde mit dem zerbeulten Soldatengeschirr der Toten und einer Reihe Gläser für die Erinnernden. So sitzt man nun vor den amtlichen Todesnachrichten, vielen "Ruschnik"- den traditionell bestickten ukrainischen Braut- und Totentüchern.

Und die Trauer zieht nicht fort. Noch nicht. Morgen vielleicht.

(Rainer F. Kokenbrink)

Widerstand

altOleksandra erzählt langsam und bedächtig, manchmal wiegt sie Worte. Sie spricht im Museum des Widerstandes in Chmelnyzkyj über die Schulabgänger 1941, über die Nacht des Kriegbeginns, in der sie ihren Schulabschluss feiern wollten und zu Widerstandskämpfern wurden: 17jährige, Maria Trembowezka zum Beispiel, engagiert und verfolgt, gefoltert und erschossen zuletzt für ihren Aufruhr gegen Besetzung, Krieg und Unrecht. Sie befreiten verhungernde Kriegsgefangene aus "Stalag 355", in dem 60.000 ihr Leben ließen, sprengten Bahnlinien und sabotierten. Sie wollten wieder frei sein, ins Kino und Angeln gehen dürfen. Beides war unter Androhung der Erschießung verboten.

Oleksandra spricht langsam, sie spricht auch über ihre Eltern.

(Rainer F. Kokenbrink)

hier im freien

alt

ihr wart meine schüler

nicht hier im freien

weiten steppenraum

östlich des vergessens


wir zogen gemeinsam

die loren der erinnerung

durch stollen und über ebenen

dem gespräche zu


(16.11.2012, Chmelyzkyj; Rainer F. Kokenbrink)


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